Donnerstag, 4. August 2016

Stromausfall


Der Tag beginnt mit einer wirklich unliebsamen Überraschung. Wie immer geht mein Blick als erstes zur Uhr am Videorecorder (jawohl, so ein museumsreifes Ding steht hier immer noch rum und wird sogar manchmal noch benutzt), um zu sehen, wie spät es ist. Heute sehe ich dort - nichts. Beim Checken weiterer Elektrogeräte wird schnell klar - der Strom ist weg. Der erste Impuls: Bei Facebook in unserer Stadtgruppe schauen, ob noch mehrere davon betroffen sind. Aber halt, geht ja nicht! Kein Computer, kein WLAN ... im Handy nur 'ne Prepaid-Karte, so dass ich zwar im Notfall damit kurz telefonieren kann, aber eben nicht im Internet surfen, sonst wird es sehr schnell sehr teuer. Facebook ist also keine Option. Verdammt.

Ich höre unten auf der Straße den Nachbarn reden, vielleicht weiß der mehr ... Also schnell ins Bad, angezogen und nach draußen gelaufen. Ich muss nun also tatsächlich meine Wohnung verlassen(!), um an eine benötigte Information zu gelangen, ein ungewohntes Gefühl; es fühlt sich nicht richtig an. Aber ein paar Minuten später bin ich tatsächlich schlauer. Offenbar ist der Strom nahezu im gesamten Stadtgebiet weg, und laut Auskunft der Versorgungsbetriebe sei es "was Größeres", könnte also noch dauern. Toll.



 

Kein Strom also. Womöglich für längere Zeit. Mir dämmern erste Worst-Case-Szenarien. In der Mittagszeit erwarte ich eine Paketlieferung. Was schweres, zu schwer, um es selbst bei der Post abzuholen, sollte der Postbote mich nicht antreffen. Zudem brauche ich die bestellte Ware heute unbedingt. Nur - ohne Strom kann der Postbote nicht klingeln. Leichte Panik macht sich breit. Ich pinne einen Zettel an die Haustür mit der Bitte, der Postbote möge laut gegen die Tür klopfen und sich auf diese Weise bemerkbar machen; in der Hoffnung, dass es irgendjemand im Haus mitbekäme. Zudem ziehe ich in Erwägung, mich mit einer Tasse Kaffee am Fenster zu postieren und nach dem Postauto Ausschau zu halten. Kaffee - eine ordentliche Dosis Koffein ist genau das, was ich brauche, doch Moment ... geht ja nicht ohne Strom! Also kein Kaffee. Auch mein Brötchen zum Frühstück fällt heute wohl aus. Die Brötchen sind tiefgefroren und werden morgens frisch aufgebacken; kann ich also auch vergessen. Der Gedanke an die Sachen in meinem Tiefkühlschrank löst die nächste Panikwelle aus: Wenn dieser Stromausfall tatsächlich länger dauern sollte, dann ist alles, was sich darin befindet, nur noch für die Tonne!

Ich überlege kurz, mir irgendwo ein frisches Brötchen zu kaufen, verwerfe den Gedanken jedoch gleich wieder. Der Strom ist überall weg, das heißt, in keinem der Geschäfte funktionieren die Kassen, man wird also gar nichts kaufen können. Auch Mist! Ich esse stattdessen zum Frühstück einen der Amerikaner, die ich gestern gebacken habe, der mir aber um diese Zeit irgendwie viel zu süß und zu klebrig ist. Nicht gerade der perfekte Start in den Tag. 

Was also tun? Kein Kaffee, kein Internet, kein Telefon ... vielleicht Putzen? Kann man machen, aber spätestens beim Staubsaugen ist dann wieder Sense; und halbfertige Sachen mag ich nicht. Dann vielleicht noch mal gemütlich hinlegen und lesen. Ich nehme mein Buch, aber auch das erweist sich als schwierig, denn es ist ein dunkler, wolkenverhangener Tag - zu dunkel, um ohne Licht die einzelnen Worte auf den Buchseiten erkennen zu können.

Dann also vielleicht Kerzenlicht? Irgendwo muss ich doch noch Streichhölzer haben! Vor Jahren - vor sehr vielen Jahren, wie mir scheint - hab ich mal welche gekauft, im Küchenschrank müssten sie sein. Ich nehme also die Kiste mit Kleinkram aus dem Schrank, finde darin auch relativ schnell die Streichhölzer, aber noch bevor ich sie aus ihrer Plastikfolienverpackung befreit habe, höre ich, wie die Elektrotherme anspringt - der Strom ist wieder da! Welch eine Erlösung!
 
Etwas mehr als eine Stunde hat der Spuk gedauert, Zeit genug, um sich auszumalen, wie unser gesamtes zivilisiertes Leben zusammenbrechen wird, wenn etwas so elementares, das wir für selbstverständlich halten, plötzlich nicht mehr verfügbar ist. Und es gibt mir zu denken auf. 

Vor so ziemlich genau 30 Jahren fuhren eine Freundin und ich per Anhalter nach Schweden. Mit nichts weiter als einem Zelt, ein paar Klamotten und einem Esbit-Kocher im Gepäck. Wir campten zehn Tage lang in der Wildnis an Seeufern, kochten unser Essen auf dem Lagerfeuer und - wenn es zu sehr regnete - unseren Instantkaffee auf eben jenem Esbit-Kocher in der halbwegs trockenen Sicherheit unter den Zeltbahnen. Und wenn wir zu Hause anrufen wollten, um Bescheid zu sagen, dass wir noch am Leben sind, mussten wir in die nächstbeste Stadt trampen und dort nach Münzfernsprechern Ausschau halten. Handy? Internet? Facebook? Kannte man 1986 alles nicht und dennoch waren es zehn hammermäßig schöne und vor allem erholsame Tage. Aber würde mir das heute auch noch gefallen? Ohne Internet? Ohne Facebook? Ich habe da irgendwie meine Zweifel ...