Ziemlich genau fünf Jahre ist es nun schon wieder her, dass in meinem Stadtviertel der einzige Supermarkt in Flammen aufging und vollständig ausbrannte. Auch in der Retrospektive noch gruselig und immer noch ziemlich unwirklich.
Ich hatte damals meine Eindrücke und meine Erinnerungen an jene Nacht aufgeschrieben, aber nie veröffentlicht. Nun möchte ich das an dieser Stelle nachholen:
»Die Nacht
vom 18. auf den 19. Juli 2013 war eine der ersten warmen Nächte des Sommers. So
warm, dass ich vor dem Zubettgehen die Fenster meiner Dachwohnung weit öffnete,
was gleichzeitig bedeutete, dass meine beiden kätzischen Mitbewohnerinnen Luna
und Lily aus Sicherheitsgründen nicht - wie sonst üblich - im Schlafzimmer
bleiben durften.
Ich schlief
in dieser Nacht noch schlechter ein als gewöhnlich. Ich hatte Bauchschmerzen,
und Luna protestierte vor der geschlossenen Schlafzimmertür; sie wollte zu mir.
Jedenfalls war ich noch wach, als gegen Viertel vor Zwei draußen die Sirenen losgingen.
Ungewöhnlich laut klangen sie, und irgendwie komisch. Ich musste an einen Film
denken, den ich nur wenige Wochen zuvor gesehen hatte, "Die Wolke",
worin es um einen atomaren Super-GAU in der Nähe einer hessischen Kleinstadt
ging. Da gab es diese Szene, in der einer der Protagonisten, als die Sirenen
losgingen, darauf beharrte, dass dies kein normaler Alarm sei. Diese Szene ging
mir spontan durch den Kopf, was sich angesichts der nächtlichen Stunde etwas
unheimlich anfühlte.
Irgendwann
schlief ich dann wohl doch ein, und offenbar verfolgte mich "Die
Wolke" nun bis in meine Träume: Jedenfalls hörte ich jetzt auch die
Polizeidurchsagen, die im Film auf den ABC-Alarm folgten und die die
Bevölkerung ermahnten, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Blechern und
nervtötend drangen die Wortfetzen immer wieder an den Rand meines Bewusstseins,
wieder und wieder und mit bemerkenswerter Penetranz. Irgendetwas stimmte nicht.
Ich öffnete die Augen und sah, wie die Nacht draußen vor den Fenstern alle paar
Sekunden in waberndes Blau getaucht wurde. Polizei. Auch die blecherne Stimme
kam jetzt wieder näher. Das alles passierte wirklich, und ich konzentrierte mich
darauf zu verstehen, was die verzerrt klingende weibliche Stimme in die Nacht
hinaus plärrte: "Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Bitte halten
Sie alle Fenster und Türen geschlossen. Achtung, Achtung, hier spricht die
Polizei ..." Meine Schreckensvision aus dem Film schien Wirklichkeit
geworden!
Schlagartig
war ich wach und lief zum Fenster, um der Aufforderung nachzukommen. Ich sah,
dass überall in den Häusern Licht brannte; ganz offensichtlich war etwas
schlimmes passiert. Ich lief ins Wohnzimmer, um dort die wegen der Hitze
gekippten Fenster ebenfalls zu schließen, und da sah ich die Rauchwolke. Gigantisch
war sie; gespenstisch leuchtend und bedrohlich stieg sie hinter dem Wohnblock
auf der anderen Straßenseite auf, bis hoch in den Himmel hinein ... Dazu das
Polizeiauto, das gerade die Kreuzung überquert hatte, und aus dem unermüdlich
die blecherne Warnung drang ... Ein verheerendes Feuer musste das sein, und ich
überschlug kurz in Gedanken, was da in Frage kommen könnte. Irgendwelche AKWs
gab es nicht in der Gegend, aber ein Chemieunfall vielleicht? Das musste es
sein, deswegen diese ganze Warnungen ... Und ich hatte bis eben die
Schlafzimmerfenster sperrangelweit offen gehabt!
Ich griff kurzerhand
zum Telefon und rief bei unserer Polizeidienststelle an. Die Nummer hatte ich
für Notfälle eingespeichert. Der Beamte am anderen Ende war sehr freundlich;
bestimmt war ich auch nicht der erste besorgte Anrufer in dieser Nacht. Ich
hätte gerade eben erst die Lautsprecherdurchsage gehört, sagte ich, und jetzt
machte ich mir Sorgen, weil ich die Fenster weit offen gehabt hätte. Wo ich
denn wohnen würde, fragte der Polizist. Ich nannte die Straße, und da meinte er
"Ja, dann sollten Sie die Fenster auf jeden Fall geschlossen halten".
"Was brennt denn da?" wollte ich wissen, und seine Antwort haute mich
glatt um: "Der Penny-Markt", sagte er "Die Kollegen sagen, der
ist platt." Auf mein fassungsloses "Ach du meine Güte"
antwortete er mit einem lakonischen "Ja, Ihre Brötchen müssen Sie morgen
woanders kaufen."
Es war 3
Uhr nachts, aber an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Schon kurz nachdem ich
sämtliche Fenster geschlossen hatte, war die Luft in der Wohnung zum Schneiden
dick, und es wurde unerträglich heiß. Zwar hatte ich gleich einen Ventilator
aufgebaut und kalt geduscht, aber beides brachte keine Linderung in dieser
warmen Hochsommernacht. Ich fuhr den PC hoch und loggte mich bei Facebook ein,
genauer gesagt in unserer Stadtgruppe, deren
Administrator ich zu jener Zeit war. Dort hatten die ersten die Nachricht schon
gepostet; es gab sogar schon erste Fotos. Handy-Fotos in grottenschlechter
Qualität; alles, was man darauf erkennen konnte, war eine gewaltige
Feuersbrunst. Jemand schrieb, das Dach wäre komplett eingestürzt; offenbar
standen nur noch die Grundmauern. Unfassbar. Zwei Tage zuvor hatte ich dort
noch eingekauft; und die Einkaufsliste für den nächsten Tag war schon
geschrieben. Wie sollte ich nun an meine Einkäufe kommen? Das Penny war die
einzige Einkaufsmöglichkeit im Stadtteil; der einzige Supermarkt, der zu Fuß zu
erreichen war. Erst wenige Monate zuvor war der Laden neu renoviert worden, und
nun war alles hin, alles hin ... Es war unvorstellbar! "Ich weiß gar
nicht, was ich sagen soll", schrieb ich in der Gruppe, und das traf
ziemlich genau auf den Punkt.
Eine frühere Kollegin, die eine Straße weiter wohnt, sah, dass ich online war und
schickte mir über WhatsApp zwei Videos vom Brand, die irgendjemand aufgenommen
hatte. Wir schickten uns Nachrichten hin und her und beteuerten uns mehrmals
gegenseitig, dass wir nun doch lieber mal versuchen sollten, noch etwas Schlaf
zu kriegen, aber letztendlich kriegten wir die Kurve dann doch nicht. Es war
alles so surreal, unwirklich; und immer wieder checkte ich wie unter Zwang
Facebook oder WhatsApp. In dieser Nacht, in der die Welt ein klein wenig aus
den Fugen geriet, tat es gut, dass es diesen Ort im Netz gab, an dem man mit
anderen zusammenkommen konnte.
Zwischendurch
versuchte ich immer wieder, doch noch einzuschlafen, aber diese Versuche waren
völlig zum Scheitern verurteilt. Zum einem war Lily völlig außer sich. Offenbar roch
sie das Feuer und spürte, dass draußen etwas vorging, denn sie rannte pausenlos
umher und maunzte aufgeregt. Und zum anderen wurde ich allmählich kribbelig.
Ich bin mit Leib und Seele Fotografin, und diesen Großbrand hätte ich nur zu
gerne vor der Linse gehabt! Zwei Dinge hielten mich davon ab: Erstens ging ich
davon aus, dass Gaffer von Polizei und Feuerwehr rigoros vertrieben werden
würden (wogegen allerdings sprach, dass immer mehr Fotos - wenn auch allesamt von
sehr schlechter Qualität; ich hätte es wesentlich besser hinbekommen - bei
Facebook auftauchten, aber ich wollte auch niemanden stören oder im Weg stehen); zweitens fürchtete ich mich vor den giftigen Dämpfen.
Deswegen hielt ich auch immer noch die Fenster geschlossen, obwohl es
inzwischen unerträglich stickig war. Gegen Morgen sei der Brand vermutlich
gelöscht, und dann dürften auch die Fenster wieder geöffnet werden, hatte der
Polizist gesagt, aber bis dahin musste ich noch etwas durchhalten. Ich schrieb
meinen Nachbarn, die gerade im Urlaub waren, eine SMS; einfach nur, um
irgendwas zu tun. Und pausenlos kreisten die Gedanken: Was, wenn das Feuer auf
andere Gebäude übergegriffen hätte? Wie konnte so etwas überhaupt passieren?
Was wird nun aus den Mitarbeitern? Wo bekomme ich nun meinen Kaffee her? (Den
brauchte ich am dringendsten, und inzwischen war mir klar, dass ich mich nach
der durchgemachten Nacht nicht ans Steuer setzen konnte, um einkaufen zu
fahren.) Und kurioser Weise dachte ich immer wieder mit großem Bedauern an die XXL-Tafeln
Ritter Sport [Anmerkung: 2013 war meine vollständige Transformation zum Veganer noch nicht gänzlich vollzogen], die jetzt verschmort im Regal lagen, und die ich eigentlich am
nächsten Tag zu kaufen beabsichtigt hatte. Ich dachte an all die Waren, von
denen ich genau wusste, wo und in welchen Regalen sie lagen, und die alle
produziert worden waren, damit irgend jemand sie eines Tages essen oder trinken
würde. Und nun würde sie niemand mehr essen oder trinken können; nun war alles
verkohlt, verbrannt, und verdorben. Was für eine Verschwendung!
Es begann
zu dämmern, und draußen erwachte das Leben. Die Leute verließen ihre Häuser, um
zur Arbeit zu gehen, ungeachtet der polizeilichen Warnungen. Um 6 Uhr morgens
gab ich meine fruchtlosen Versuche, doch noch etwas Schlaf zu kriegen, auf. Ich
erntete meine Farm bei Farmerama ab, zog mich an, schnappte die Kamera und
verließ das Haus. Die Luft war jetzt angenehm kühl, aber schon, als ich die Kreuzung vorm Haus überquerte, schlug mir der Brandgeruch entgegen. Es war derselbe Weg, den ich unzählige
Male genommen hatte, um im Penny einzukaufen; jetzt war ich im Begriff, dem Laden
meine letzte Aufwartung zu machen. Ich bog um die nächste Straßenecke und kam
genau in dem Moment, in dem die aufgehende Sonne den Rauch des nunmehr
gelöschten Feuers in goldenes Licht tauchte, davor die Silhouette eines
Feuerwehrmannes, der in seinem Löschkorb über allem schwebte. Ein seltsam
friedlicher Moment am Ende einer langen, endlosen Nacht.
Ich machte
einige Bilder aus sicherer Entfernung und nahm anschließend - um die Löscharbeiten nicht zu behindern -
einen Umweg, um mich der Brandstelle von anderer Seite zu nähern. Nun sah ich
das ganze Ausmaß der Zerstörung; verkohlte Dachbalken, die wie Rippen aus einer
Brandleiche herausragten. Der Eingangsbereich mit den Einkaufswagen; komplett
zerstört. Der Blick durch die Frontfenster ins Ladeninnere, ein einziges Durcheinander
aus verkohltem Holz, Metall, und Löschschaum. Jede Menge Feuerwehrfahrzeuge
überall auf dem Parkplatz. Und die Verkäuferinnen, die diskutierend zusammen
standen. Ich machte ein paar Aufnahmen; fühlte mich wie ein Paparazzo dabei und
machte mich daher schnell wieder auf den Heimweg. Meine Bilder wurden sogleich
exklusiv bei Facebook eingestellt. Danach wartete ich. Wartete darauf, dass es
spät genug war, um die ersten Telefonate zu führen. Um über das, was ich in
dieser Nacht erlebt hatte, reden zu können. Irgendwie war es wichtig, darüber
zu reden ...
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Mittags
ging ich noch mal zur Brandruine. Es war ein strahlend schöner
Tag mit blauem Himmel und Schäfchenwolken; der Rauch hatte sich inzwischen
verzogen. Im gleißend hellen Licht des heißen Julitages löste sich das Surreale
der vergangenen Nacht in Nichts auf und machte der Realität Platz. Irgendwie
begriff ich erst in diesem Moment, angesichts des Trümmerfeldes vor mir, dass es
das Penny nun tatsächlich nicht mehr gab.«