Freitag, 20. Juli 2018

Erinnerungen an einen Großbrand

Ziemlich genau fünf Jahre ist es nun schon wieder her, dass in meinem Stadtviertel der einzige Supermarkt in Flammen aufging und vollständig ausbrannte. Auch in der Retrospektive noch gruselig und immer noch ziemlich unwirklich. 

Ich hatte damals meine Eindrücke und meine Erinnerungen an jene Nacht aufgeschrieben, aber nie veröffentlicht. Nun möchte ich das an dieser Stelle nachholen:


»Die Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2013 war eine der ersten warmen Nächte des Sommers. So warm, dass ich vor dem Zubettgehen die Fenster meiner Dachwohnung weit öffnete, was gleichzeitig bedeutete, dass meine beiden kätzischen Mitbewohnerinnen Luna und Lily aus Sicherheitsgründen nicht - wie sonst üblich - im Schlafzimmer bleiben durften.

Ich schlief in dieser Nacht noch schlechter ein als gewöhnlich. Ich hatte Bauchschmerzen, und Luna protestierte vor der geschlossenen Schlafzimmertür; sie wollte zu mir. Jedenfalls war ich noch wach, als gegen Viertel vor Zwei draußen die Sirenen losgingen. Ungewöhnlich laut klangen sie, und irgendwie komisch. Ich musste an einen Film denken, den ich nur wenige Wochen zuvor gesehen hatte, "Die Wolke", worin es um einen atomaren Super-GAU in der Nähe einer hessischen Kleinstadt ging. Da gab es diese Szene, in der einer der Protagonisten, als die Sirenen losgingen, darauf beharrte, dass dies kein normaler Alarm sei. Diese Szene ging mir spontan durch den Kopf, was sich angesichts der nächtlichen Stunde etwas unheimlich anfühlte.




Irgendwann schlief ich dann wohl doch ein, und offenbar verfolgte mich "Die Wolke" nun bis in meine Träume: Jedenfalls hörte ich jetzt auch die Polizeidurchsagen, die im Film auf den ABC-Alarm folgten und die die Bevölkerung ermahnten, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Blechern und nervtötend drangen die Wortfetzen immer wieder an den Rand meines Bewusstseins, wieder und wieder und mit bemerkenswerter Penetranz. Irgendetwas stimmte nicht. Ich öffnete die Augen und sah, wie die Nacht draußen vor den Fenstern alle paar Sekunden in waberndes Blau getaucht wurde. Polizei. Auch die blecherne Stimme kam jetzt wieder näher. Das alles passierte wirklich, und ich konzentrierte mich darauf zu verstehen, was die verzerrt klingende weibliche Stimme in die Nacht hinaus plärrte: "Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Bitte halten Sie alle Fenster und Türen geschlossen. Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei ..." Meine Schreckensvision aus dem Film schien Wirklichkeit geworden!

Schlagartig war ich wach und lief zum Fenster, um der Aufforderung nachzukommen. Ich sah, dass überall in den Häusern Licht brannte; ganz offensichtlich war etwas schlimmes passiert. Ich lief ins Wohnzimmer, um dort die wegen der Hitze gekippten Fenster ebenfalls zu schließen, und da sah ich die Rauchwolke. Gigantisch war sie; gespenstisch leuchtend und bedrohlich stieg sie hinter dem Wohnblock auf der anderen Straßenseite auf, bis hoch in den Himmel hinein ... Dazu das Polizeiauto, das gerade die Kreuzung überquert hatte, und aus dem unermüdlich die blecherne Warnung drang ... Ein verheerendes Feuer musste das sein, und ich überschlug kurz in Gedanken, was da in Frage kommen könnte. Irgendwelche AKWs gab es nicht in der Gegend, aber ein Chemieunfall vielleicht? Das musste es sein, deswegen diese ganze Warnungen ... Und ich hatte bis eben die Schlafzimmerfenster sperrangelweit offen gehabt!

Ich griff kurzerhand zum Telefon und rief bei unserer Polizeidienststelle an. Die Nummer hatte ich für Notfälle eingespeichert. Der Beamte am anderen Ende war sehr freundlich; bestimmt war ich auch nicht der erste besorgte Anrufer in dieser Nacht. Ich hätte gerade eben erst die Lautsprecherdurchsage gehört, sagte ich, und jetzt machte ich mir Sorgen, weil ich die Fenster weit offen gehabt hätte. Wo ich denn wohnen würde, fragte der Polizist. Ich nannte die Straße, und da meinte er "Ja, dann sollten Sie die Fenster auf jeden Fall geschlossen halten". "Was brennt denn da?" wollte ich wissen, und seine Antwort haute mich glatt um: "Der Penny-Markt", sagte er "Die Kollegen sagen, der ist platt." Auf mein fassungsloses "Ach du meine Güte" antwortete er mit einem lakonischen "Ja, Ihre Brötchen müssen Sie morgen woanders kaufen."

Es war 3 Uhr nachts, aber an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Schon kurz nachdem ich sämtliche Fenster geschlossen hatte, war die Luft in der Wohnung zum Schneiden dick, und es wurde unerträglich heiß. Zwar hatte ich gleich einen Ventilator aufgebaut und kalt geduscht, aber beides brachte keine Linderung in dieser warmen Hochsommernacht. Ich fuhr den PC hoch und loggte mich bei Facebook ein, genauer gesagt in unserer Stadtgruppe, deren Administrator ich zu jener Zeit war. Dort hatten die ersten die Nachricht schon gepostet; es gab sogar schon erste Fotos. Handy-Fotos in grottenschlechter Qualität; alles, was man darauf erkennen konnte, war eine gewaltige Feuersbrunst. Jemand schrieb, das Dach wäre komplett eingestürzt; offenbar standen nur noch die Grundmauern. Unfassbar. Zwei Tage zuvor hatte ich dort noch eingekauft; und die Einkaufsliste für den nächsten Tag war schon geschrieben. Wie sollte ich nun an meine Einkäufe kommen? Das Penny war die einzige Einkaufsmöglichkeit im Stadtteil; der einzige Supermarkt, der zu Fuß zu erreichen war. Erst wenige Monate zuvor war der Laden neu renoviert worden, und nun war alles hin, alles hin ... Es war unvorstellbar! "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", schrieb ich in der Gruppe, und das traf ziemlich genau auf den Punkt.

Eine frühere Kollegin, die eine Straße weiter wohnt, sah, dass ich online war und schickte mir über WhatsApp zwei Videos vom Brand, die irgendjemand aufgenommen hatte. Wir schickten uns Nachrichten hin und her und beteuerten uns mehrmals gegenseitig, dass wir nun doch lieber mal versuchen sollten, noch etwas Schlaf zu kriegen, aber letztendlich kriegten wir die Kurve dann doch nicht. Es war alles so surreal, unwirklich; und immer wieder checkte ich wie unter Zwang Facebook oder WhatsApp. In dieser Nacht, in der die Welt ein klein wenig aus den Fugen geriet, tat es gut, dass es diesen Ort im Netz gab, an dem man mit anderen zusammenkommen konnte.

Zwischendurch versuchte ich immer wieder, doch noch einzuschlafen, aber diese Versuche waren völlig zum Scheitern verurteilt. Zum einem war Lily völlig außer sich. Offenbar roch sie das Feuer und spürte, dass draußen etwas vorging, denn sie rannte pausenlos umher und maunzte aufgeregt. Und zum anderen wurde ich allmählich kribbelig. Ich bin mit Leib und Seele Fotografin, und diesen Großbrand hätte ich nur zu gerne vor der Linse gehabt! Zwei Dinge hielten mich davon ab: Erstens ging ich davon aus, dass Gaffer von Polizei und Feuerwehr rigoros vertrieben werden würden (wogegen allerdings sprach, dass immer mehr Fotos - wenn auch allesamt von sehr schlechter Qualität; ich hätte es wesentlich besser hinbekommen - bei Facebook auftauchten, aber ich wollte auch niemanden stören oder im Weg stehen); zweitens fürchtete ich mich vor den giftigen Dämpfen. Deswegen hielt ich auch immer noch die Fenster geschlossen, obwohl es inzwischen unerträglich stickig war. Gegen Morgen sei der Brand vermutlich gelöscht, und dann dürften auch die Fenster wieder geöffnet werden, hatte der Polizist gesagt, aber bis dahin musste ich noch etwas durchhalten. Ich schrieb meinen Nachbarn, die gerade im Urlaub waren, eine SMS; einfach nur, um irgendwas zu tun. Und pausenlos kreisten die Gedanken: Was, wenn das Feuer auf andere Gebäude übergegriffen hätte? Wie konnte so etwas überhaupt passieren? Was wird nun aus den Mitarbeitern? Wo bekomme ich nun meinen Kaffee her? (Den brauchte ich am dringendsten, und inzwischen war mir klar, dass ich mich nach der durchgemachten Nacht nicht ans Steuer setzen konnte, um einkaufen zu fahren.) Und kurioser Weise dachte ich immer wieder mit großem Bedauern an die XXL-Tafeln Ritter Sport [Anmerkung: 2013 war meine vollständige Transformation zum Veganer noch nicht gänzlich vollzogen], die jetzt verschmort im Regal lagen, und die ich eigentlich am nächsten Tag zu kaufen beabsichtigt hatte. Ich dachte an all die Waren, von denen ich genau wusste, wo und in welchen Regalen sie lagen, und die alle produziert worden waren, damit irgend jemand sie eines Tages essen oder trinken würde. Und nun würde sie niemand mehr essen oder trinken können; nun war alles verkohlt, verbrannt, und verdorben. Was für eine Verschwendung!

Es begann zu dämmern, und draußen erwachte das Leben. Die Leute verließen ihre Häuser, um zur Arbeit zu gehen, ungeachtet der polizeilichen Warnungen. Um 6 Uhr morgens gab ich meine fruchtlosen Versuche, doch noch etwas Schlaf zu kriegen, auf. Ich erntete meine Farm bei Farmerama ab, zog mich an, schnappte die Kamera und verließ das Haus. Die Luft war jetzt angenehm kühl, aber schon, als ich die Kreuzung vorm Haus überquerte, schlug mir der Brandgeruch entgegen. Es war derselbe Weg, den ich unzählige Male genommen hatte, um im Penny einzukaufen; jetzt war ich im Begriff, dem Laden meine letzte Aufwartung zu machen. Ich bog um die nächste Straßenecke und kam genau in dem Moment, in dem die aufgehende Sonne den Rauch des nunmehr gelöschten Feuers in goldenes Licht tauchte, davor die Silhouette eines Feuerwehrmannes, der in seinem Löschkorb über allem schwebte. Ein seltsam friedlicher Moment am Ende einer langen, endlosen Nacht. 


  Ich machte einige Bilder aus sicherer Entfernung und nahm anschließend - um die Löscharbeiten nicht zu behindern - einen Umweg, um mich der Brandstelle von anderer Seite zu nähern. Nun sah ich das ganze Ausmaß der Zerstörung; verkohlte Dachbalken, die wie Rippen aus einer Brandleiche herausragten. Der Eingangsbereich mit den Einkaufswagen; komplett zerstört. Der Blick durch die Frontfenster ins Ladeninnere, ein einziges Durcheinander aus verkohltem Holz, Metall, und Löschschaum. Jede Menge Feuerwehrfahrzeuge überall auf dem Parkplatz. Und die Verkäuferinnen, die diskutierend zusammen standen. Ich machte ein paar Aufnahmen; fühlte mich wie ein Paparazzo dabei und machte mich daher schnell wieder auf den Heimweg. Meine Bilder wurden sogleich exklusiv bei Facebook eingestellt. Danach wartete ich. Wartete darauf, dass es spät genug war, um die ersten Telefonate zu führen. Um über das, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, reden zu können. Irgendwie war es wichtig, darüber zu reden ... 

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Mittags ging ich noch mal zur Brandruine. Es war ein strahlend schöner Tag mit blauem Himmel und Schäfchenwolken; der Rauch hatte sich inzwischen verzogen. Im gleißend hellen Licht des heißen Julitages löste sich das Surreale der vergangenen Nacht in Nichts auf und machte der Realität Platz. Irgendwie begriff ich erst in diesem Moment, angesichts des Trümmerfeldes vor mir, dass es das Penny nun tatsächlich nicht mehr gab.«